Foto: Tobias Kircher

Dr. Michael Ahlsdorf

02.10.1961 geboren in Berlin

1980 Abitur an der Eckener-Oberschule Berlin

1981 – 1988 Studium Philosophie, Politologie, ev. Theologie an der Freien Universität Berlin

1988 Magister Artium

1991 Promotion in Evangelischer Theologie zum Thema

Nietzsches Juden. Die philosophische Vereinnahmung des alttestamentlichen Judentums und der Einfluss von Julius Wellhausen in Nietzsches Spätwerk

1991 – 1997 Buchautor und Freier Journalist für verschiedene Zeitschriften

1997 – 1999 Redakteur der Zeitschrift Bikers News in Mannheim

1999 – 2015 Leitender Redakteur und Chefredakteur der Zeitschrift Bikers News

2016 – 2020 Chefreporter der Zeitschrift Bikers News

Chefredakteur eines Rocker-Magazins

Als Chefredakteur des Rocker-Magazins „Bikers News“ kann man es zu einer gewissen Prominenz bringen. Die Ereignisse hatten mir dabei wohl geholfen. Ich übernahm die Leitung der Bikers News-Redaktion als Nachfolger von Doc Baumann in genau dem Jahr, in dem der Bones MC zum Hells Angels MC übertrat und eine Woche später der Ghostrider’s MC zum Bandidos MC. Das war das Jahr 1999, und damit begann in Deutschland das, was in Politik und Boulevard-Medien gerne „Rockerkrieg“ genannt wird.

Mein Posten zwischen den Fronten wurde ein ziemlich heißer Stuhl. Vielleicht hatte ich einfach nur Glück, dass mich keine Umstände zwangen, ihn zu verlassen. Erst zum Ende des Jahres 2015 trat ich zurück und überließ den Platz meinem Kollegen Tilmann Ziegenhain.

Das Jahr war kein Zufall. In der Mitte des Jahres 2015 hob der Bundesgerichtshof das bundesweite Colour-Verbot auf. Bandidos MC, Gremium MC und Hells Angels MC durften ihre Abzeichen wieder in der Öffentlichkeit tragen, bis eine Änderung des Gesetzes ihnen das Tragen ihrer Abzeichen im Jahr 2017 wieder verbot.

Mit der kurzfristigen Aufhebung des Colour-Verbots im Jahr 2015 ging ein Aufatmen durch die Szene. Alle schienen verstanden zu haben, und in der Rocker-Szene schien Frieden einzukehren. Das wiederum schien für mich der rechte Zeitpunkt zu sein, die Chefredaktion ohne Not abzugeben. Die turbulenten Ereignisse zweier Jahrzehnte hatten auch an meiner Kondition gezehrt, und als Chefreporter wollte ich ab dem Jahr 2016 einfach nur noch Storys schreiben.

Schließlich teilten Tilmann und ich uns die Redaktion. Wäre mein geschätzter Tilmann nicht mein Kollege gewesen, so wäre er mein Freund. Aber auch gemeinsam konnten wir nichts gegen die sinkenden Verkaufszahlen der Bikers News im Wettlauf mit dem kostenfreien Internet tun. Unser Verlag ging im Jahr 2020 in die Insolvenz und existierte seit dem 1. Juli 2020 nicht mehr.

Als Philosoph unter Rockern

Nun aber zu meiner Prominenz. Ich war natürlich nur ein C-Promi in einer Subkultur. Sie brachte mich immerhin als Sachverständigen am 12. Dezember 2016 in den Innenausschuss des Bundestages, als dort über das Colour-Verbot debattiert wurde. Darüber hinaus kamen die bürgerlichen Medien immer wieder mit Interview-Anfragen auf mich zu. Sie stellten mir meistens eine typische Frage: Wie kommt man als promovierter Philosoph und Theologe ausgerechnet in die Rocker-Szene? Nun, die Liebe zur Technik und zum Motorrad sind das eine. Ebenso empfinde ich eine intensive Affinität zu Bünden und Bruderschaften. Und dann lesen Sie bitte sorgfältig das Thema meiner Dissertation, ich nenne deren Titel absichtlich so ausführlich: „Nietzsches Juden. Die philosophische Vereinnahmung des alttestamentlichen Judentums und der Einfluss von Julius Wellhausen in Nietzsches Spätwerk“ Wer sich mit der Materie ein wenig auskennt, wird wissen, dass es bei diesem Thema um die große Frage geht, wie Menschen sich selbst ein Glaubensgebilde zusammenzimmern können. Auch Rocker-Clubs sind in vielerlei Hinsicht religiös aufgeladene Institutionen, auch ein Motorcycle Club (MC) ist ein freigewähltes Glaubensgebilde, das im Idealfall ein ganzes Leben besteht. Bürgerliche Ehen halten in der Regel nicht so lange, Religionen auch nicht mehr unbedingt. Unter Menschen, deren Leben gänzlich unter Namen und Farben ihres Clubs steht, habe ich nun mehrere Jahrzehnte meines eigenen Lebens führen dürfen. Ich werde diese Jahrzehnte nie vergessen und bin dankbar für die große Gnade unter solchen Menschen gelebt zu haben, deren Universum so bunt und so schillernd ist, wie ein Außenstehender es sich nicht vorstellen kann. Ich habe die faszinierendsten und die durchgeknalltesten Typen kennen und lieben gelernt. Und ich fühle mich noch immer als einer von ihnen, wenn ich auch seit der Insolvenz unseres Verlages nicht mehr professionell für sie tätig sein kann.

Weitere Leidenschaften

Übrigens liebe ich neben Rockern und meinen beiden Kindern noch ein paar andere Dinge: Die Philosophie, die Literatur, die Militärgeschichte und die Musik, gerne die Zwölftönige. Wer meine Qualifikationen zu diesen Themen in Anspruch nehmen will, der möge sich über das Kontaktformular auf dieser Seite an mich wenden.

Michael Ahlsdorf

NEU
Michael Ahlsdorf

Auf heißem Stuhl im Rockerkrieg

Als Chefredakteur eines Rockermagazins zwischen Hells Angels und Bandidos

20,00 Euro

Hannibal Verlag

Innsbruck 2021, 224 S., ISBN 978-3-85445-710-7

Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten

Zum fünfzigjährigen Geburtstag des Buches von Robert. M. Pirsig

… Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten

Er hätte ja über die Freiheit schreiben können. Als der hyper-intelligente Motorradfahrer Robert M. Pirsig sein Buch „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ veröffentlichte, schrieben wir das Jahr 1974. Das darf noch als ein Jahr der Hippie-Kultur verbucht werden. Der Film „Easy Rider“ hatte eine neue Generation von Bikern geprägt, und damals ging es dieser Generation immer um die Freiheit.

In diesen Zeitgeist platzte Pirsig hinein, und sein Buch wurde eines der viel verschenkten aber kaum gelesenen Bücher einer ganzen Generation. Denn statt über Freiheit dozierte Pirsig über das Schrauben an Motorrädern, das bitteschön mit ordentlicher Strukturierung und gleichzeitiger Anfertigung von Notizen zu erfolgen hätte, alles unter der richtigen Geisteshaltung, die dann immerhin auch irgendwie was mit dem fernöstlichen „Zen“ zu tun hat.
Die 448 Seiten des Buches entpuppten sich als langatmiger Leistungsvergleich zwischen platonischem und aristotelischem Weltbild und stellten diesen Weltbildern Pirsigs Ideal von der alten griechischen Tugend der „arete“ entgegen. Arete, das ist im weiteren Sinne die „Vortrefflichkeit“, denn Pirsig ging es in seiner Philosophie um die Qualität. Nicht im Sinne der Eigenschaft, so dürfte Qualität ja auch zu verstehen sein, sondern im abgegriffenen Sinne der Produktwerbung: Es ging um das Beste, eben um die Vortrefflichkeit.
Okay, Pirsigs Buch erschien unter einem vielversprechenden Titel. Allein die Begriffe „Zen“ und „Motorrad“ kamen unter den Hippies gut an. Es war damit schnell klar, dass es in diesem Buch um Philosophie gehen würde. Es ging sogar um Motorradphilosophie. Wie war das möglich?

Was Langhaarige lesen

Nun war das Jahr 1974 auch eines der großen Jahre des Progressive Rock, einer Musikrichtung, die auf dem Markt heute keine Chance mehr hätte: Hochintellektuell, komplex strukturiert und für die meisten Gemüter schlichtweg unverständlich, weil man dazu nicht tanzen konnte. Damals aber, im Jahr 1974 tat eine ganze Generation sich das freiwillig an. Erkenntnis, Bildung, Bücher, das waren in dieser Zeit Tugenden, für die man sich nicht schämen musste. Und so landete Pirsigs Buch „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ in den Regalen der Langhaarigen, soweit die überhaupt Regale hatten. Wir dürfen trotzdem bezweifeln, dass sie alle dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen hätten.

Oder doch? Es fängt ja ganz gut an, mit einer Roadstory, die uns auf Motorrädern von der Mitte der USA an die Westküste führt, von Minneapolis nach Kalifornien. Kalifornien, na klar, das musste ja sein. Aber immerhin nicht über die Route 66. Das wäre dann doch zu abgegriffen gewesen, zumal schon der Mythos der Route 66 ein rollendes Missverständnis der Pop-Kultur war. Pirsigs Buch erzählt also auch eine Roadstory. Sie findet auf zwei Motorrädern statt. Eines von beiden, eine von einem Pärchen besetzte BMW, verlässt die Geschichte ziemlich schnell. Übrig bleiben dann nur der Protagonist, kein Geringerer als Pirsig höchstselbst, und sein zehnjähriger Sohn Chris, beide zusammengeklemmt zwischen ihrem Gepäck auf einem kettengetriebenen Parallel-Twin. Mehr verrät Pirsig nicht über das Modell, die wenigen technischen Beschreibungen lassen darauf schließen, dass es eine Triumph gewesen sein dürfte.

Während der Reise begegnet Pirsig seiner eigenen Vergangenheit. Er war in seinem früheren Leben ein hochintelligenter, aber seelisch erkrankter Akademiker. Seine Krankheit gipfelte in einem Zusammenbruch und einer klinischen Behandlung mit Elektroschocks, die seine Persönlichkeit veränderten. Das glauben wir nicht ganz, denn auch der neue Pirsig auf seinem Motorrad ist ein dozierender Nerd, der zwischen den Stationen seines Rittes quer durch die USA zu philosophischen Exkursen ausholt. Sein zehnjähriger Sohn, der das alles mitmachen muss, ist darum nicht zu beneiden.

Gott zwischen den Zahnrädern

Aber Erkenntnis kostet eben ihren Preis. Der überforderte Sohn bleibt während der Fahrt vielleicht auf der Strecke, aber das im Dienste eines 450-seitigen Bestsellers. Ja, allen Ernstes, das macht wirklich nichts, denn das Buch ist seine 450 Seiten wert. Als zum Beispiel der arme Chris unter Durchfall leidet und Vater und Sohn immer wieder vom Motorrad steigen müssen, damit der Junge in die Büsche verschwinden kann, nimmt Pirsig das zum Anlass, 25 Seiten lang über das strukturierte Schrauben zu referieren. Und das unter der Überschrift „Mut und Entmutigung“ (Pirsig, S. 321-346). Tja, welcher Biker das nicht, die Erlebnisse von Mut und Entmutigung, wenn er sich an ein großes Schrauberprojekt wagt? Wem hat der Stress da nicht auch schon mal Durchfall eingebracht?

Und als der Sohn auf den letzten Kilometern der Fahrt die Frage stellt „Darf ich auch ein Motorrad haben, wenn ich alt genug bin?“, da verwundert das den Leser ein wenig. Der Junge sollte nach diesem Ritt doch eigentlich die Schnauze voll haben?
Wir hoffen mal, dass Pirsigs Fahrt wirklich mit einer glücklichen Vater-Sohn-Beziehung endete. Pirsig jedenfalls antwortet auf die Frage des Sohnes „… man muss nur die richtige Einstellung haben“ (Pirsig, S. 435).
Und das ist die Quintessenz des ganzen Buches mit seinen 450 Seiten: Es geht um die richtige Einstellung, was wohl tatsächlich was mit Zen zu tun hat. Es geht darum, dass ein Mann sich an seiner Maschine beweisen und sich und seine Maschine zur Vortrefflichkeit emporarbeiten kann, wenn er sie mit der richtigen Einstellung behandelt, wenn er weiß, dass Technik nicht nur aus seelenlos ineinandergreifenden Zahnrädern besteht, sondern dass auch zwischen diesen Zahnrädern eine Gottheit wohnt (Pirsig, S. 26). Na also, das ist doch eine Einstellung, die Motorradfahrer kennen und nachvollziehen können.
Aber musste das sein? Kann man nicht auch ohne ein 450-seitiges Buch Motorräder fahren und Motorräder warten? Der Motorrad-Philosoph Rainer Otte quittiert die Frage vierzig Jahre später mit einem knackigen „Denk‘ Du mal nach, ich fahr‘ schon vor.“ (Otte, S. 29)

Motorradfahrende Philosophen

Pirsig war vielleicht der erste Motorrad-Philosoph. Rainer Otte war nicht erst der zweite, und er wird sicher nicht der letzte bleiben. Nach Pirsig folgten weitere, eigentlich auffällig viele Motorrad-Philosophen, und es verwundert, warum so viele Philosophen über das Motorradfahren schreiben oder auch, warum zu viele Motorradfahrer zu philosophieren beginnen.

Die erste Frage ist vielleicht einfacher zu beantworten. In jedem Geisteswissenschaftler nagt der tiefsitzende Komplex, das mit der Lust und der Sinnlichkeit noch nicht richtig begriffen zu haben. Wie aber soll man Lust und Sinnlichkeit überhaupt begreifen? Daraus spricht ein typisch deutscher Komplex. Wenn ein Philosoph Motorrad fährt, ist das, wie wenn sich ein Deutscher zum Rotweintrinken und zum spätabendliche Essen nötigt, weil er gehört hat, dass die Franzosen und die Italiener das so machen und weil er als Deutscher doch auch gerne das Leben so wie diese Südländer genießen würde. Ähnlich verhält es sich mit deutschen Studienräten, die Flamenco tanzen. Im Ergebnis ist beides nur lächerlich.

Wenn ein Philosoph also über das Motorradfahren schreibt, will er damit offensichtlich was wieder gut machen – als wenn ihm bis dahin was gefehlt hätte. Was ihm fehlt, das wird er durch das Schreiben darüber nicht gewinnen. Das gilt auch für Rainer Otte, der in seinem Buch wenigstens eine Menge geistreicher Bezüge und netter Apercus zusammenstellt bis hin zu einem Zitat aus dem „Ulysses“ von James Joyce, das sich pikanterweise auch auf eine sonntagnachmittägliche Motorradausfahrt in den Odenwald beziehen ließe, während der man ja doch nur durch Immergleiches fährt: „Da denkt man, man ist entwischt und läuft sich selber über den Weg. Der längste Umweg ist der kürzeste nach Hause.“ (Otte, S. 118) Allein dafür ist das Buch von Otte lesenswert.

Von Matthew B. Crawford würden wir das nicht so unbedingt behaupten, obwohl er mit seinem Buchtitel „Ich schraube, also bin ich“ doch eines der berühmtesten Zitate aus der Philosophie strapaziert. Immerhin zeugt sein Buch von der Freude des Intellektuellen, am Motorrad mit den Händen auch mal was Gegenständliches schaffen zu können, zumal es auch für Crawford im rechten Handeln des Mechanikers um das Streben nach Vortrefflichkeit geht (Crawford, S. 252).

Leider vergriffen ist „Das Buch vom Motorrad“ von Moritz Holfelder. Weniger ein Philosophie-Buch als eine erhellende Kulturgeschichte des Motorrades und damit ja doch ein wenig philosophisch. Vor allem aber hat Holfelder sich für seine Kulturgeschichte auch in die Niederungen der Motorradszene gewagt, in ihre Subkulturen, um festzustellen, dass es auf den Präsidentenversammlungen der Rocker nicht anders zugeht als in jedem Spießerverein: „Die Rocker, Symbol für Anarchie und Freiheit, proben sich intern in engstirniger Vereinsmeierei, zetteln zu lächerlich nebensächlichen Tagesordnungspunkten endlose Debatten an und beweisen dabei durchaus behördliches Beharrungsvermögen.“ (Holfelder, S. 103) Ein bisschen hat Holfelder sogar recht, ich kenne mich da aus.

Gleiches gilt für das Buch „Less or more – what a Bore“ von Tom Stark. Auch das weniger ein philosophisches Buch, als eine kulturphilosophische Analyse des Phänomens Harley-Davidson. Es schließt mit dem Urteil: „In seinen Grundzügen bedient das Design von H.D. […] zunächst einmal das infantile Bedürfnis des Menschen, die gleiche Geschichte immer wieder hören zu wollen.“ (Stark, S. 183)
Das ist so bis heute gültig. Harleys Projekte der Wasserkühlung waren mit den Modellen „V-Rod“ und „Street“ gescheitert, das neueste Projekt „Revolution Max“ muss sich erst beweisen. Stattdessen beharren die Kunden auf den luftgekühlten Big Twins, die in ihren höchsten Leistungsstufen längst nicht mehr luftgekühlt sind, sondern nur so aussehen – worüber sich allein schon philosophieren ließe. Harleys neuere Anläufe zu wassergekühlten und vor allem zu elektrobetriebenen Motorrädern müssen sich jedenfalls erstmal beweisen.

Mensch und Maschine

Ich selbst füllte als Chefredakteur eines Rocker-Magazins im Jahr 2007 acht Seiten mit der Ausdeutung des Begriffes „Freiheit“, wie er unter Rockern zu verstehen ist. Das war dringend fällig. Jahrzehntelang geisterte das so genannte „Rocker-Paradoxon“ durch die wissenschaftliche Literatur (Opitz, S. 176), die Soziologenschwemme der Siebziger und Achtziger Jahre hatte es aufgetan. Die jungen Akademiker rühmten sich der Entdeckung, dass Rocker viel von Freiheit reden, sich selbst aber unter die strengsten Gesetze stellen.

Da wollte ich auch mal mitreden und versuchte, es meinen Lesern zu erklären: Das Rocker-Paradoxon sei kein Widerspruch, sondern genau der Ausdruck von Freiheit, in der man sich eben nicht gehen lässt und macht, wozu man gerade Lust hat, sondern in der man sein Leben unter frei gewählten Regeln selbst gestaltet.
Mir selbst geht es auf dem Motorrad sowieso nicht primär um die Freiheit. In einem von Martin Fischinger geführten Interview stellte ich das Thema „Freiheit“ in den Hintergrund und erklärte stattdessen: „… als Theologe und auch als Philosoph lernt man es ja, sich mit wenig zufrieden zu geben. Und in dieser Hinsicht ist die gefühlte Freiheit auf dem Motorrad schon eine Menge. Persönlich genieße ich es auf dem Motorrad übrigens viel mehr, die Technik zu bewältigen und den Elementen zu trotzen. Das Motorrad ist für mich etwas, an dem ich mich beweisen und bewähren kann. Ich lerne damit die Dinge zu bewältigen, ich emanzipiere mich gewissermaßen von ihnen. Vielleicht ist das im weiteren Sinne sogar doch die wahre Freiheit.“ (Fischinger, S. 87)

Und auf Fischingers Frage „Kann Motorradfahren Werte ersetzen?“ antwortete ich: „Sicher. Zum Beispiel würde kein Motorrad laufen, wenn sein Fahrer nicht gewissenhaft, geduldig und wohlstrukturiert schrauben würde. Da leistet die Maschine Erziehungsarbeit am Menschen. Mit dem Motorradfahren können sich sogar zwischenmenschliche Werte ausbilden. Denken wir an die Solidarität der Biker im Fall von Pannen. Es kann darüber hinaus im Gruppenverhalten schulen. Denken wir an Motorrad- und Rocker-Clubs.“ (Fischinger, S. 88)

Das mit dem wohlstrukturierten Schrauben glitt mir ohne einen Gedanken von Pirsigs „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ über die Lippen, weil diese Weisheit einfach zu selbstverständlich ist, und weil man dafür nicht die Philosophie des weithergeholten Zen aus dem allzufernen Osten zitieren muss.
Das übrigens stellte auch ein weiterer Philosoph fest, ein echter Motorrad-Philosoph namens Peter Su Markus von der Internetseite www.motoradphilosophen.de: „Statt auf die Kraft der Magie, setzt der Geist des Zen auf etwas, das man in jeder bodenständigen Schrauberbude der westlichen Welt bereits kennt und in eigener Tradition pflegt. Etwas, das man dort als klare Kante bezeichnet und es, obwohl es in seiner Bodenständigkeit dem Wesen des Zen sehr Nahe steht, kaum mit den Inhalten des Zen in Verbindung bringen würde.“ (https://motorradphilosophen.de/zwei-prozenter-ich-schraube-also-bin-ich/zen-geist-japan-motorrad-bau-schrauben-warten)

Mit anderen Worten: Was die Schlitzaugen können, das können wir auch. Bei uns heißt es bloß anders. Hätte Pirsig sein Buch also gar nicht schreiben müssen?

Platon, Aristoteles und die Freiheit

Mit dieser Frage kommen wir endlich von den motorradfahrenden Philosophen zu den philosophierenden Motorradfahrern. Wenn ein Motorradfahrer philosophiert, dann macht er nämlich nichts anderes als Pirsig in seiner Gegenüberstellung von platonischem und aristotelischem Weltbild.

Was die beiden griechischen Philosophen unterscheidet? Hier in Kurzfassung: Platon, das war der Mann mit den großen Ideen und Idealen. Das Einzelne zählte für ihn nicht, es war vergänglich. Bestehen würden dagegen die Ideen, und die sind als das idealtypische die Quintessenz, das Beste aus allen vergänglichen Vereinzelungen.
Aristoteles dagegen war der Mann mit den Kleinlichkeiten, der Mann, der alles aufzählte und aneinanderreihte und damit ordnete. Im weiteren Sinne war Aristoteles der Mechaniker, dessen Texte sich nicht anders lasen als eine technische Beschreibung oder ein Werkstatthandbuch.

Was aber steckt hinter all den kleinen Teilen und Teilchen des Mechanikers, die er ordnend ineinander verschraubt? Na, klickert es? Richtig: Es ist das Großeganze, die Manifestation einer Idee, das idealtypische Motorrad, das der Mechaniker im Geiste längst zusammengesetzt hat. Alles das unter dem Anspruch, Qualität abzuliefern, es vortrefflich zu machen, denn auch zwischen den Zahnrädern wohnt eine Gottheit.

Das also ist die Botschaft von Robert M. Pirsigs Buch „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“: Jeder, der ein Motorrad zusammenschraubt, wird zum Philosophen.
Muss Pirsig da noch von Freiheit schreiben? Wir vermissen sie in Pirsigs Buch, dabei ist sie doch längst da: Die Freiheit ist in der Roadstory, die ihre Protagonisten jeden Tag zu einem neuen Ziel führt. Und die die Freiheit ist in der Vortrefflichkeit des Schraubers, der Wirklichkeit werden lässt, was ihm am ersten Tag in der Werkstatt nur in seinem Geiste vorschwebt. Man muss nur die richtige Einstellung haben.

Ein vielversprechender Titel: Die Begriffe „Zen“ und „Motorrad“ kamen unter den Hippies gut an
Wenn ein Philosoph Motorrad fährt, ist das, wie wenn deutsche Studienräte Tango tanzen
Jeder von uns, der ein Motorrad zusammenschraubt, wird zum Philosophen

In seinem Roman „Früchte de Zorns“ gab John Steinbeck der Route 66 den Namen „Mother Road“. Mit seinem Roman wurde diese Straße zur Legende. Die spätere Popkultur machte daraus ein großes Missverständnis, das Missverständnis vom amerikanischen Traum der Freiheit.

Es geht in dem Roman aber nicht um die Freiheit, sondern um die Flucht: In den Dreißigerjahren suchte eine fürchterliche Dürre die Staaten des mittleren Westens heim, besonders betroffen war Oklahoma. Landlos gewordene Farmer, dem Hungertod nahe, zogen über diese Route 66 nach Kalifornien, um dort als Habenichtse mit Hass und Verachtung empfangen zu werden. Die Route 66 führt nicht zu Freiheit, sondern zum Scheitern des amerikanischen Traums. Sie stellt das Bühnenbild für ein Flüchtlingsdrama, sie ist nicht nur die Mother Road, sondern die Straße der Flucht: „66 is the mother road, the road of flight.“

Was für ein Motorrad fuhr Robert M. Pirsig auf seiner Tour? Im Buch verrät er es nicht
Jeder von uns, der ein Motorrad zusammenschraubt, wird zum Philosophen. Das ist die Botschaft von Robert M. Pirsigs Buch Robert M. Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1974 / 1976, 448 Seiten, 16,00 Euro
Matthew B. Crawfords Buch zeugt von der Freude des Intellektuellen, am Motorrad auch mal was mit den Händen schaffen zu können Matthew B. Crawford: Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, Ullstein Verlag, Berlin, 2010, 304 Seiten, 9,99 Euro
Martin Fischinger führt in seinem Buch ein Interview mit dem studierten Philosophen und ehemaligen Bikers News-Chefredakteur Michael Ahlsdorf Martin Fischinger: Motorradzubehör. Motorbuchverlag, Stuttgart, 2008, 152 Seiten darin: Exkurs: Das individuelle Bike und die Freiheit, Interview mit Michael Ahlsdorf, S. 85-90, 19,95 Euro (nur noch über polo-motorrad.com)
Moritz Holfelder hat sich für seine Kulturgeschichte auch in die Niederungen der Motorradszene gewagt, um festzustellen, dass es unter Rockern auch nicht anders zugeht als in jedem Spießerverein Moritz Hohlfelder: Das Buch vom Motorrad. Eine Kulturgeschichte auf zwei Rädern, Husum Verlag, Husum, 1998, 240 Seiten (vergriffen)
Martin G. Opitz: Rocker im Spannungsfeld zwischen Clubinteressen und Gesellschaftsnormen. Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 1990, 300 Seiten
Rainer Otte stellt eine Menge geistreicher Bezüge und netter Apercus zusammen Rainer Otte: Windpassagen. Die Philosophie des Motorradfahrens, Parodos Verlag, Berlin, 2014, 132 Seiten, 13,90 Euro
Tom Starks Buch schließt mit dem Urteil: „In seinen Grundzügen bedient das Design von H.D. zunächst einmal das infantile Bedürfnis des Menschen, die gleiche Geschichte immer wieder hören zu wollen.“ Tom Stark: Less or more - what a Bore. Harley-Davidson: Design im Kontext, Anabas-Verlag, Frankfurt a.M., 270 Seiten, 34,00 Euro
Wer hätte das gedacht: Im deutschen Rocker-Magazin erschien im Januar 2007 ein achtseitiger Artikel über die Biker-Philosophie der Freiheit
In der Zeitschrift CUSTOMBIKE 02/2021 erschien eine gekürzte Fassung dieses Textes
Peter Su Markus hat auch über Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten geschrieben, zeitgemäß im Internet auf www.motorradphilosphen.de

Hörbuch

AUF HEISSEM STUHL IM ROCKERKRIEG

FIRST UNIT PRODUCTIONS

DR. MICHAEL AHLSDORF

Hörprobe

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AUF HEISSEM STUHL IM ROCKERKRIE

Schießereien, Auftragsmorde, organisierte Kriminalität: Die Rockerszene ist auch in Deutschland aggressiver und gefährlicher geworden. Was in den Sechzigerjahren mit einzelnen Chartern der Hells Angels begann, ist längst eine eigene Welt aus rivalisierenden Gruppen, die nicht nur im Dauerkonflikt mit der Polizei und den Behörden stehen, sondern auch mit der Konkurrenz.
Ende der Neunziger veränderte sich die Szene stark. Kleine Clubs wurden, nicht selten unter Androhung von Gewalt, von größeren, meist Hells Angels und Bandidos, übernommen oder zur Unterstützung verpflichtet. In diesem aufgeheizten Klima lernt der junge Journalist Michael Ahlsdorf als Redakteur bei der Bikers News, einem Magazin für die Rockerclubs, alle führenden Rocker kennen, erlebte die Kriege um Macht und Einfluss hautnah mit und kam selbst in brenzlige Situationen.
So sehr ihn die hierarchischen Strukturen, Egotrips und Gewaltexzesse gelegentlich auch befremdeten, blieb doch immer die Faszination für diese unangepasste Subkultur mit ihren Ritualen und eigenen Gesetzen.
Ein echter Insider-Bericht: schonungslos, offen und provokant!
Inklusive PDF-Booklet mit Zeittafel und Glossar.

Sprecher: Michael J. Diekmann

Spielzeit: 7 Std. 35 Min.

Veröffentlichung: Mai 2022

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    Schneller Essen. 101 Kantinen in Berlin. Be.Bra Verlag, Berlin, 1996

    Alles über Rocker. Die Gesetze, die Geschichte, die Maschinen. Huber Verlag, Mannheim, 2017, 5. Auflage

    Nietzsches Juden. Die philosophische Vereinnahmung des alttestamentlichen Judentums und der Einfluss von Julius Wellhausen in Nietzsches Spätwerk. Shaker Verlag, Aachen, 1997

    1000 Motorräder. Geschichte, Klassiker, Technik. Naumann & Göbel Verlag, Köln, o.J.

    The Art of Racing. Huber Verlag, Mannheim, 2017

    Jagd auf die Rocker. Huber Verlag, Mannheim, 2016